Eben las ich auf sueddeutsche.de einen Artikel, der mich sehr nachdenklich gemacht hat. Es geht um ein „Unternehmen“ namens snapchat. Die Idee dahinter ist, dass die meisten Dinge, die man so auf Facebook, Twitter & Co. postet, nur für den Augenblick interessant sein sollen. Dinge wie „Ich warte gerade auf meine Pizza“ oder aber auch ein Foto, das man in einem denkwürdigen Augenblick aufgenommen hat. Oder einfach nur so.
Das kann man dann auf seinem snapchat-Account stellen und nach einer bestimmten Zeit ist es dann weg. Für immer. Der Besucher hat also – sagen wir mal – 20 Minuten Zeit, sich den Text, das Kurzvideo oder das (auf Wunsch mit einfachen Zeichenwerkzeugen bemalte) Bild anzuschauen. Ist er nicht schnell genug, ist es für immer weg, da snapchat keinerlei Timeline führt.
Was ist eine Erinnerung?
Eine Erinnerung macht einen Menschen aus. Dinge, die in der Vergangenheit passierten, haben oftmals Einfluss auf die Gegenwart und die Zukunft. Bleiben wir beim Beispiel „Ich warte gerade auf meine Pizza“: vielleicht ist doch der Pizzabote die künftige Liebe des Lebens? Und man geht später noch gerne zurück auf diesen kleinen unscheinbaren Eintrag, der alles in’s Rollen gebracht hat. Oder man postet ein Bild, wie man nach dem gemeinsámen Essen mit Verwandten zusammen glücklich und zufrieden in die Kamera schaut. Und von einer der abgelichtetene Personen ist es das letzte Bild, das jemals von ihr geschossen wurde.
Es sind sehr oft die Kleinigkeiten, die Auslöser waren für viele sehr wichtige Dinge, die im Leben geschehen. Aber man kann sicherlich auch bedeutender Dinge dort teilen, wie z.B. das superschöne Strandfoto nach einem perfekten Tag. Erinnerungen machen für mich und sicher auch viele von Euch einen großen Teil des Lebens aus. Man ist daran gewachsen, sie machen Dich zum Menschen. Zu jemandem, der nicht nur die Summe seiner Teile ist, sondern zu jemandem, der sein Leben mit vielen Erlebnissen und Erfahrungen angefüllt hat, die wichtig und schön sind und den weiteren Verlauf des Lebens bestimmen können. Oder einfach nur sich selbst genügen, als schöne Erinnerung, die einem ein Lächeln in’s Gesicht zaubern.
Die Liebe meines Lebens habe ich kennen gelernt, als ich mir das Viertelfinalspiel der Fußball-EM angeschaut und nebenbei in einem Dating-Portal eher unmotiviert verschiedene Menschen angeklickt hatte. Doch plötzlich hatte ich sie gefunden, the one and only. Hätte ich damals etwas bei snapchat gepostet, wäre es wahrscheinlich gewesen: „Langweiliges Viertelfinalspiel, ich schaue mal, was sich in LaBlue so tut. Mir ist langweilig!“
Die Erinnerung hätte ich zwar immer noch an dieses Posting, aber sie wäre nach einer voreingestellten Zeit verpufft und ich könnte mich heute nicht mal mehr daran erinnern, was genau ich damals geschrieben hatte. Und wie kurios es rückblickend gewesen wäre – wirklich eine witzige Erinnerung 🙂
Was ist eine Erinnerung wert?
Anscheinend nichts. Jedenfalls ist das, was man mal schrieb, wohl sehr schnell bedeutungslos. Fotos und Texte ohne Belang, so lala. Einfach mal was dahingeschrieben. Hey, und wenn daraus etwas Größeres entstanden ist, wen interessiert’s?
350.000.000 „Snaps“, also Bilder oder Texte pro Tag (!!!!), die nach kurzer Zeit verfallen und nicht rekonstruiert werden können. Die anscheinend so belanglos sind, dass man sich das Posten hätte sparen können oder die von Menschen stammen, die vor lauter „Zeitgeist“ nicht mehr wissen, was sie in ihrer grenzenlosen Lethargie noch alles mit hohlem Blick durchklicken sollen. Wie sagt der launige, hippe Gründer von snapchat so treffend:
Die Überlegung dahinter ist, dass ein Großteil der geschossenen Bilder und gedrehten Kurzvideos keinen emotionalen Wert besitzen.
Und im Nachsatz:
„Sie werden nicht geknipst, um einen Moment festzuhalten, sondern um eine Botschaft zu transportieren: „Hier, ich stehe gerade an einer Ampel und hier passiert etwas Witziges“ ist beispielsweise so eine Botschaft.“
Was ist die Botschaft denn? Das kann ich Euch sagen. Sie lautet: „Ich mache irgendein cooles Ding im Moment, aber es ist mir eigentlich egal. Und dir bestimmt auch.Vergiss es einfach…“
Zum Wert der Erinnerungen (bzw. des Vergessens): 3.000.000.000 – 4.000.000.000 $. Soviel wollten Google und Facebook angeblich für diesen Dienst bezahlen. So viel, wie Microsoft gerade für die Handysparte von Nokia bezahlt hat.
Warum soll überhaupt vergessen werden?
Weil wahrscheinlich in einer verrückt gewordenen Welt niemand mehr die Notwendigkeit sieht, sich den Kopf mit Erinnerungen vollzustopfen. Ex und hopp, wie damals in den 70ern. Konsumieren und dann weg damit. Der Countdown läuft, noch schnell einen Snap anschauen, gleich ist er ja weg, das ist dann auch egal.
Manch einer mag jetzt sagen: „ich trage meine Erinnerungen in meinem Herzen, nicht in irgendwelchen Posts!“. Ja, da trage ich sie auch. Aber irgendwann fragen unsere Kinder vielleicht mal: „Hey Papa, hast du eigentlich alte Bilder von dir und Mama? Damals, als ihr euch kennen gelernt habt?“ Und die Generation snapchat sagt dann: „Ach, ich hatte mal ein paar, die gibt’s aber nicht mehr. Ist doch auch egal.“
Ach ja, das digitale vergessen. Früher musste deine Bude abbrennen, damit die Fotoalben weg waren. Heute reicht schon ein unbedachter Klick. Ich habe meine Digitalfotos redundant gespeichert, aber auch alles in meiner Bude. Fackelt diese ab, sind meine digitalen und meine analogen Fotos weg. Aber ehrlich gesagt habe ich die Analogen bilder auch schon lange nicht mehr angesehen. Aber wenn man das wirklich für die Nachwelt erhalten wollte, müsste man ja auch was zu den Fotos schreiben und das ganze dann auch zukunftssicher archivieren. Das bereitet den Archiven der Welt in digitaler Form ziemliches Kopfzerbrechen. Wer hat heute schon noch ein Syquestlaufwerk oder kann noch Zip-Disketten lesen… Wenn ich daran denke das meine Kinder Irgendwann mal meine Fotoalben rauskramen, wenn ich mal nicht mehr bin, dann kennen die wahrscheinlich die meisten Leute auf den ältesten Bildern nicht mehr (geht mir auch so, wenn ich Fotoalben meiner Großeltern ansehe). Ich habe aber ehrlich gesagt anderes zu tuen als alle meine Fotos zu taggen (analog wie digital). Also wird das irgendwann sowieso verloren gehen. Das ist aber schon immer so gewesen und wird es wahrscheinlich auch bleiben. Ich weis eh nicht was das ganze gefacebooke und getwittere soll. Da ist der allergrößte Teil eh für niemanden relevant. Aber vielleicht kann man mit all dem irrelevantem Content der NSA die Server voll müllen, damit die nicht mehr so viel relevanten Content speicher können…
Schönen Gruß aus Köln…
Markus
Hallo Markus, habe heute nach langer Zeit mal wieder meinen Spam-Ordner durchsucht und bin auf Deinen Kommentar gesatoßen…sorry, dass er im Spam gelandet ist (weiß auch nicht warum). Und vielen Dank für Deinen Kommentar 🙂
Ergänzung von Leser Peter in eigener Sache!
Es würde mich interessieren, ob andere Leser des Beitrags oben den hier von mir geschriebenen Kommentar absolut konfus finden oder für angemessen halten,
Mir würde ein kleiner Randhinweis ausreichen. Ehrliche Kritik erwünscht.
Danke!
Peter
Wer bestimmt die Grenze zwischen Kommunikation und Dokumentation?
Meiner Meinung nach sind Erinnerungen an vergangene Reaitäten mental veränderbar.
Vielleicht gewinnen sie erst in der Rückschau an Bedeutung.
Ein systematisiertes Vergessen unserer Momentaufnahmen nach vordefinierter Zeit würde die Reifung einer möglichen Relevanz und auch deren „Fortpflanzung“ viel zu früh ersticken!
Wäre also voreilend programmierte Redundanz des Erlebten.
Welche vielleicht entscheidenden Momente des Lebens wollen der Möglichkeit einer Neubetrachtung beraubt werden um tragende Bedeutung zu gewinnen?
Wer als Mensch reift, weiß natürlich, dass man vielleicht !!!zeitweise!!! nicht zu allem aus der eigenen Vergangenheit erinnern will.
Aber Welches System kann die Obsoleszenz unserer EREIGNISSE (eigen!!!), die wir kommunizierten bestimmen?
Der richtige Weg aus der Reizüberflutung ist es aber wahrscheinlich für die meisten nicht.
Im undigitalen Kommunikationsverhalten.würde das heißen 😉
Schmeiß die Inspiration weg, bevor sie MERK-WÜRDIG wird.
Einfach mal so Erzähltes verpufft immer nach 20 Minuten!
Es gibt nur einblättrige Tagebücher aus Esspapier!
Die ERFAHRUNG:
Alles was Geld kostet wird immer mehr zum trendbestimmten Saisonartikel.
Alles „Neue“ wird unverkäuflich, wenn man weiß: “ Das hat`s schon mal`gegeben.*
vorausgesetzt man konnte dies erfahren und ist nicht an Retrotrends interessiert.
Vielleicht wäre es eine sehr gute Geschäftsidee die Unerfahrenheit möglicher
Zielgruppen zu fördern / nutzen.
Was ist eigentlich mit Urheberrechten für das nachweislich nur 20min „erstpubliziert“ Geplapperte,
sofern es mal von anderen verwendet wird?
Peter