In den letzten Monaten ist viel passiert, viel Schlimmes, aber auch kleine Lichtblicke. Momente, in denen ich zwar meine „alte“ Mutter nicht wiederbekam, aber immerhin schöne und auch lustige Momente mit ihr erlebt habe. Zeiten, in denen ich mir keine Sorgen machen brauchte, weil sich ihr neues Leben eingespielt hatte. Als wir zu zweit beim Griechen essen waren, zusammen im Aldi einkauften, wo sie sich wieder ein bisschen nach draußen trraute und sie es sich auch zutraute.
Nach dem 22. Dezember 2013 kam allerdings der Absturz. Als sie mit Wasser in der Lunge in’s Krankenhaus kam, dort 3 Wochen lag und nach ewiger Zeit des Rumdokterns ihr endlich ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Sie hatte große Angst vor dem Eingriff, aber alles lief problemlos. Nach dieser Zeit, die uns fast ewig vorkam, weil kein Fortschritt erkennbar war, kam sie im Januar wieder nach Hause. Abends kam ihre Hausärztin, die sie abhorchte und feststellte, dass wieder ein Rasseln in der Lunge war. Sie wollte nicht schon wieder in das Krankenhaus, aber es war unumgänglich, noch am gleichen Abend. Und es war leider kein anderes Krankenhaus frei, sodass sie wieder in dieses beschissene, gottverdammte Buschkrankenhaus kam, in dem auch meine Oma 1972 an den Folgen einer Lungenentzündung verstarb.
Sie hatte also wieder Wasser in der Lunge, anscheinend auch eine Lungenentzündung. Das kann man glauben, muss es aber nicht. Selbst nach einer Woche Aufenthalt waren sich die Herrschaften nicht klar darüber, welcher Keim der Auslöser ist. Dann kam man auf die glorreiche Idee, mal den Auswurf zu untersuchen, um den Keim zu identifizieren!
Die Mama wurde immer schwächer, konnte kaum noch aufrecht sitzen. Grazyna kam jeden Tag und brachte ihr Obst und Getränke mit. Sprach mit ihr, munterte sie auf. Auch ich und Ina kamen regelmäßig vorbei und brachten ihr Dinge zum Essen mit, die sie sich wünschte: Kartoffelsalat, leckere Salami, Blauschimmelkäse. Ich glaube, das gefiel ihr. Aber sie wurde immer schwächer.
Und dann sagte sie irgendwann zu Ina und mir: „Fahrt in Urlaub, macht Reisen, lebt Euer Leben. Ich konnte nicht mehr reisen, aber bitte erfüllt Euch Eure Wünsche.“
Eines Tages rief ich im Krankenhaus an und hatte eine Frage, als man mir beiläufig mitteilte, dass sie heute (!!!!) entlassen wird und ich mich kümmern soll! Sowas habe ich noch nie erlebt. Aber wie mir eine Mitarbeiterin ihrer Krankenkasse mitteilte, ist das ja „heute völlig normal, dass man als Angehöriger nachfragen muss, von selbst erfährt man ja nichts.“ Tja, das ist in der Tat ungeheuerlich und ich schrieb eine bitterböse Beschwerde an die DAK, welche Zustände in dieser Einrichtung herrschen und dass man sich darum mal bitte kümmern soll (…was bis heute nicht geschehen ist).
Also wurde meine Mutter als Wrack zuhause abgeliefert. Als ich nach der Arbeit bei ihr ankam, konnte ich es nicht fassen: da lag eine alte, vor Kälte zitternde Frau, die nicht wusste, was mit ihr vorging und niemand wusste, was jetzt geschehen soll. Nachdem ich einen einigermaßen klaren Kopf hatte, beschloss ich, sie für eine Nacht in die Kurzzeitpflege zu stecken. Wir riefen also den Krankenwagen, der sie dort ablieferte. Am nächsten Tag holte sie mein bester Freund Peter mit seiner Partnerin ab, während ich auf der Arbeit sein musste, und brachte sie in das Altenheim, wo sie dann schließlich bleiben sollte.
Peter hielt mich über die Aktion auf dem Laufenden, während ich auf der Arbeit war. Sie haben die Mama abgeliefert, es wurde sich rührend um die gekümmert, und sie kam in ein schönes, helles Zimmer. Es gab auch direkt Mittagessen und sie hat wohl reingehauen wie ein Scheunendrescher 🙂
Sie hat sogar noch die Pizzaecke entdeckt, die Peter in der Hand hielt und luchste sie ihm ab 😀 Ich war froh, als ich das Bild gesehen hatte, das Peter mir schickte – die Mama so richtig glücklich aus und froh, dass sie endlich was Ordentliches zu essen bekommt (sie mochte immer schon deftige Sachen, so wie ich auch). Leider schien das ihre Henkersmahlzeit gewesen zu sein.
In den folgenden Stunden verschlecherte sich ihr Zustand immer weiter, und in den nächsten Tag fanden wir sie fast nur noch schlafend und zum Schluss verwirrt im Bett liegend vor. Sie bekam Druckgeschwüre, aß nichts mehr und trank nichts mehr. Ina, Grazyna und ich besuchten sie fast täglich, aber der Lebenswille schwand immer mehr.
An dieser Stelle möchte ich übrigens explizit das Theresiahaus in Koblenz, wo sie lag, lobend erwähnen. Nicht nur, dass sie dort in einem hellen, freundlichen Haus aufgehoben war, auch der Kontakt mit der stellvertretenden Pflegedienstleistung, Frau Kuhn, war sehr herzlich und offen. Das Theresiahaus war – ohne es vorher zu wissen – die beste Option, die es gab. An dieser Stelle herzlichen Dank, auch an das CIM (Centrum für integrative Medizin), das direkt an das Haus angeschlossen ist. Ihr macht ganz, ganz tolle Arbeit!
Wenn wir alt werden, wenn der Lebenswille nicht mehr da ist und ein Leben gelebt ist, werden wir wieder wie Kinder. Wir schlafen viel, wir müssen vielleicht gefüttert werden, wir können nicht mehr auf die Toilette gehen. Wir können uns vielleicht auch nicht mehr richtig verständigen. Es ist dann nichts mehr übrig von dem Mensch, der wir waren. Die Erinnerungen an unser Leben fangen an zu verblassen. Bei kleinen Kindern finden wir es niedlich, wenn sie noch unbeholfen sind und nicht sprechen können. Der große Unterschied ist leider, dass wir wissen, dass kleine Kinder irgendwann erwachsen werden, ihr Leben noch vor ich haben, lernen, selbstständig werden. Ein alter Mensch durchläuft aber diese Phasen in umgekehrter Reihenfolge, und es ist so schlimm zu wissen, dass sie sich zurück entwickeln und dass am Ende eines stolzen, selbstbestimmten Lebens der Tod steht.
Die Mama hatte in den letzten Wochen ein Stofftier, ein kleines Eichhörnchen – die Ulli. Grazyna hat es ihr von der Kleiderkammer der Caritas mitgebracht, und sie liebte es heiß und innig und sprach auch mit ihr. Wie ein Kind ;-(
Am zweiten Wochenende im Februar bekamen wir einen Anruf vom Notarzt, der in das Theresiahaus gerufen wurde, dass sie wieder röchelt, und ob man sie ärztlich versorgen sollte. Da meine Mutter eine Patientenverfügung hatte, wurden lebensverlängernde Maßnahmen ausgeschlossen und man brachte sie in das Krankenhaus Marienhof nach Koblenz.
Am nächsten Morgen erhielten Ina und ich einen Anruf, dass wir vorbeikommen sollten, dass es zuende geht. Wir waren in Remscheid und machten uns sofort auf den Weg. Als wir eintrafen, erfuhren wir, dass die Mama um 10.00 Uhr – mittlerweile war es 11.00 Uhr – friedlich von uns gegangen ist. Sie starb an einer Blutvergiftung als Folge einer Harnwegsinfektion. Es kam ein Arzt und klärte uns auf. Dann kam noch ein Priester und sprach tröstende Worte. Aber was soll einen da noch trösten?
Meine liebe Mama, die mich 45 Jahre lang begleitete, war gestorben. Im Sterbezimmer brannte eine LED-Kerze, die der Priester danach ausknipste. Als ob ein ganzes Leben ausgeknipst wird.
In dem Zimmer im Marienhof in Koblenz, wo sie starb, streichelten wir ihr ein letztes Mal über die Hände und über den Kopf, sprachen mit ihr und verabschiedeten uns.
Mama, Du hast die letzte Reise angetreten und wir hoffen, dass Du gut angekommen bist. Ich danke Dir für 45 Jahre, die sicher nicht immer einfach waren, aber auch für sehr viel Freude, die wir gemeinsam hatten. Auch Ina war eine gute Freundin für Dich und hat Dich sehr lieb gehabt – aber das weißt Du ja. Schlaf gut und danke für alles. Wir werden Dich nie vergessen.