Wandertag 1975. Eine Zeitreise. Auszüge aus meinem Leben als 6-Jähriger

Ich kann es kaum glauben, wie doof ich anno 1975 ausgesehen habe. Aber das haben wir irgendwie alle. Ich hatte einen braun-beigen Ringelrolli an und es war Wandertag. Schönes Wetter. Rechts oben unsere ähhmm…Sachkunde-Lehrerin? Wie hieß die noch? Die Dame mit kürzeren grauen Haaren, auch in der oberen Reihe und in weiß, war unsere Klassenlehrerin, Frau G.  Die habe ich ja so richtig gerne gehabt. Warum? Weil sie in Ordnung war und ihre Schüler ernst genommen hat. Weil sie uns was für’s Leben beigebracht hat und uns von Kleinkindern zu „richtigen“ Kindern gemacht hat.

Klassenfoto 1975

Na, erkennt Ihr mich in dem bunten Pulk? Ich bin der mit der Hand am Mund (ich habe damals noch lange nicht geraucht, Entwarnung 😉 ) Ist ja ein hübsches Suchbild, oder? Das ist aus unserer Gruppe bei wer-kennt-wen geklaut, aber ich habe es sicher auch noch irgendwo zuhause ‚rumfliegen.

Ich betrachte das auch mit ein wenig Wehmut: wir wurden 1975 eingeschult, haben unser Leben bis heute gelebt, sind jetzt 40 Jahre alt. Mancher ist vielleicht gescheitert, manch einer hat sicher Karriere gemacht. Damals waren wir Kinder, die ihre sonnigen Tage in einer Welt verbracht haben, die es heute nicht mehr gibt. Einer Welt der Kaugummiautomaten, „Feuerchen machen“ hinter der Hecke, unserer Eltern mit Schlaghosen und Fußball-WM 1974, Dreck, Freude, Nudeln mit Tomatensoße, Hausaufgaben mit einfachen Rechenaufgaben und Schreibübungen, meinem ersten Lesebuch, dem Geruch von Kreide auf der Tafel, in der Adventszeit in der Klasse mit den Stühlen im Kreis sitzen und Buntpapiersterne basteln, Kerzen an und warten, bis es hell wird und der Unterricht beginnt.

Es war eine schöne Zeit, eine Zeit, in der man lesen und schreiben gelernt, „FWU“- Lehrfilme im Keller der Schule angeschaut hat – mit der Kakao“tüte“ (so nannte man die frühen Tetrapacks) samt Strohhalm in der Hand. Und in 4 Grundschuljahren zu jemandem geworden ist, den man bedenkenlos auf die Haupt- oder Realschule oder sogar auf’s Gymnasium loslassen konnte. Jeder von uns hat sein eigenes Schicksal. Und keiner hätte das auch nur erahnt anno 1975. Wir waren fröhliche Kinder in einer einfachen und schönen Welt. Die am Wandertag ihren kleinen Rucksack dabei hatten mit Butterbroten und Capri-Sonne oder Sunkist. Zwei Brote mit Salami und ein Getränk, ja, das war es. Und dann ab in den Wald und die Natur, während die Salamibrote heiß und und das Sunkist noch heißer wurde im Rucksack. Vor sich hin traben und kleine, nette Kindergespräche mit den Klassenkameraden führen.

34 Jahre sind seitdem vergangen. Wir alle haben sicher unsere Ausbildung hinter uns gebracht, vielleicht geheiratet, vielleicht Kinder. Wenn ich dieses Bild sehe, fühle ich mich so, als wäre ich noch der kleine Martin von damals. Als wären die 34 Jahre weggewischt. Es ist alles noch so präsent. Meine Kindheit, die 70er-Jahre, die Schule. Die ganze Stimmung. Und ich wünsche mir oft, dass ich einfach aufwache und *zack* in’s Jahr 1975 gebeamt würde und nochmal alle Chancen hätte und mir die Wünsche erfüllen könnte, von denen ich damals nichts wusste. Und glaubt mir: ich wäre gerne Pilot oder Designer geworden!

Ich wurde Chemielaborant…aber auch das ist OK.

So verblichen und fleckig das Bild auch ist, es ist meine Kindheit – unser aller Kindheit! – , die ich nicht missen mag. Mit allem Scheiß, den wir als Kind so veranstaltet haben, aber es war gut wie es war. Wir sind ‚reingewachsen in diese Welt, die wir heute erleben und die zumindest mich immer wieder auf’s Neue erstaunt. Obwohl wir alle eine ganze Menge Technik ganz selbstverständlich nutzen, wäre es doch anno 1975 eine Utopie gewesen, dass es mal so weit kommt und wir grenzenlos kommunizieren können, mit wenigen Klicks. Dass die ganze Welt ein gigantischer Sandkasten sein wird, in dem wir unsere virtuellen Burgen bauen und alle, alle Menschen, die wir je kannten, wiedertreffen und umarmen können. Und unsere Wünsche vielleicht erfüllen können. Irgendwann. In der realen und auch virtuellen Welt des Jahres 2009. Von dem wir nie dachten, dass wir es jemals erleben, weil es so nach Zukunft klingt.

1975. An einem sonnigen Tag. Einem Wandertag mit der Klasse. Willkommen zuhause in einer anderen Zeit!

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Über Martin

Ich bin und war es immer, der Chefredakteur des alten und des neuen Loft 75, dem illustrierten Magazin aus dem 21. Jahrhundert. Geboren 1969 in einem kleinen Ort im Welterbe Oberes Mittelrheintal und somit gebürtiger Rheinland-Pfälzer. Ich habe mich bereits 1987 für Computer interessiert, bin oft kreativ und reduziere Dinge auf das Wesentliche, schreibe gerne und interessiere mich für Design, Einrichten, Internet, Kochen, Blogging und alles, was außergewöhnlich ist und außergewöhnlich gut aussieht. Privat wohne ich am Mittelrhein. Und ich freue mich, wenn Du dieses Magazin magst - lesen wir voneinander..?
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Chikatze

ui, du bist bei wkw? kenne da sonst kaum leute.
😉
hihi, 1975 war ich noch nichtmal ein jahr alt.
*kicher*
aber du warst wirklich nicht schwer zu finden auf dem bild, nach der pulli-beschreibung! 😉
Ich kann aber kontern! HA!
Kindergartenfoto anno 1979! 😉
http://www.chitime.com/blog/?p=361

Martin

Keine Windeln? Stimmt, das hat noch einige Zeit gedauert bei Dir…ich vergaß.

Silke

1975 in Windeln o.O ?
Aber so sindse die alten Knacker 😛 immer ablenken wollen 😀

Martin

@DarkVamp: Also während ich wanderte mit meinen knallheißen Sunkist-Tüten wurdest Du gerade zusammengebaut – schon eine geile Vorstellung :-D.

@Nila: Bei uns im Jahrgang wurde leider auch auch schon gestorben 🙁

@Retronaut: Na, ich bin doch so ein alter Filosof 🙂 Mir war danach, spätestens als ich das Wort „Wehmut“ eingetippt hatte.

@Silke: Ja, stimmt: ich war schon in der Schule und Du hattest noch Windeln an *lach*

@Gertrude: Danke für Dein Lob. Mich überkam’s einfach so beim Schreiben. Und die Tatsache dass Du als Wienerin mir als Koblenzer irgendwo über das WWW schreibst ist einfach faszinierend. Obwohl das ganz einfach technisch erklärbar ist, muss man sich einfach mal überlegen, dass es 1975 diese Technik noch nicht gab und man sich nicht hätte vorstellen können, dass es sie jemals geben wird. Ich bin gespannt, was wir zu Lebzeiten (wie sich das anhört…) noch alles erleben werden. Es bleibt spannend!

Gertrude

Ein ganz toller Artikel, Du triffst genau den Punkt!
Super geschrieben und ja wir haben viel Blödsinn gemacht,…
Aber wir haben es geschafft:
Einer mehr der andere halt weniger!
Aber wir sitzen hier und schreiben Uns ohne das WIR uns persönlich kennen.
Damals nicht vorstellbar – in keinster Weise!
Sehr nachdenklich mit einen Lächeln im Gesicht
Gertrude

Silke

Ich finde ja 1976 VIEL besser 😛

Retronaut

Fast ein bisschen philosophisch, aber trotzdem ein sehr gelungener Artikel. Trifft den Nagel auf den Kopf^^

Nila

Lach, ich liebe so „alte“ Fotos, die einem in Erinnerungen schweifen lassen. Ganz genial ist immer ein Klassentreffen. Leider hatten wir erst 2.
Was mich persönlich erschüttert hat, aus meinem Jahrgang Geb.Jahr 73 sind schon 3 Schüler gestorben. 2 an Krebs und einer bei einem Motorradunfall.

DarkVamp

Du wurdest vom Kleinkind zu nem “richtigen” Kind und ich war dabei von „Flüssig“ nach „Fötus“ zu werden lol