Ich habe ein paar schöne Bilder von damals gefunden, als meine (seit 6 Jahren verstorbene) Mutter Chefsekretärin in einem mittelständischen Chemieunternehmen war. Da fallen mir natürlich einige Anekdoten aus dem Büroalltag in den 70ern bis 90ern ein, die ich als Kind teilweise miterlebt habe, weil ich meine Mum ab und zu mal besuchen durfte.
THEMEN IN DIESEM BEITRAG
Anforderungen an eine gute Sekretärin
Schreibmaschine, Durchschlagpapier, Aktenkörbchen und seltsam anmutende Telefone prägten damals den Arbeitsplatz der Sekretärin. Meine Mum begann im Jahr 1964 in diesem Unternehmen als Stenotypistin. Ja, richtig, Stenografie („Steno“), musste man damals auch noch beherrschen! Das ist diese merkwürdige, aber effiziente Kurzschrift, mit der man nach Gehör blitzschnell Notizen machen kann und die für alle, die des Steno nicht mächtig sind, komplett unleserlich ist.
Meine Mum hatte damals, als ich Kind war, die Kaufzettel mit meinen Weihnachtsgeschenken in Steno geschrieben. Natürlich konnte ich das nicht entziffern und fand es ziemlich doof, dass so ein Zettel auf der Fensterbank lag und ich immer noch nicht schlauer war, was es zu Weihnachten gab…
Später brauchte man Steno nur noch, wenn es mal ganz schnell gehen musste. Stattdessen gab es irgendwann „Platten“ – also so eine Art biegsamer Schallplatten, die der Chef besprochen hat und die man in ein Gerät einstecken musste zum Abspielen. Dann hat man sich die Ohrhörer eingesetzt und los ging die fröhliche Tipperei. Und noch später kamen dann die Diktiergeräte.
Außerdem musste man Schreibmaschine schreiben und genügend Anschläge pro Minute vorweisen können. In den 70ern waren Schreibmaschinen noch ziemlich rustikal. Meine Mutter hatte anfangs elektromechanische Maschinen, später mit Kugelkopf, Typenrad und zum Schluss, im Jahre 1995, war sie eine der letzten Mitarbeiterinnen, die immer noch eine Speicherschreibmaschine hatte, eine IBM 6787. Das war ein ziemliches Monster, mit wechselbarem Typenrad, 99 Speicherplätzen, Einzugautomatik und LCD-Display. Und meine Mum kannte sie in- und auswendig, mit allen ihren Tücken.
Natürlich musste man als Sekretärin, damals wie heute, den Chef bei allen wichtigen Terminen unterstützen, diese nachhalten und telefonieren, was das Zeug hält. Dafür hatte man einst Telefone mit furchtbar vielen Tasten. Anfangs mit Wählscheibe, später mit Tasten.
Die alte Schreibmaschine und das Zubehör
Wichtig war in den 70ern bis hinein in die 90er auch Tipp-Ex – übrigens eine deutsche Erfindung, die um die Welt ging! Damit meine ich nicht die Korrekturflüssigkeit mit dem Pinsel, nein, sondern die kleinen, weißen Blättchen. Die hat man bei Schreibmaschinen verwendet, die noch mit Farbband arbeiteten. Ging im Prinzip ganz einfach: um ein Zeichen zurückfahren, Blättchen auf das Papier halten, das zu korrigierende Zeichen nochmals drübertippen, fertig. Die weiße Farbe hat das falsche Zeichen überdeckt, sodass man auf die jetzt weiße Stelle das richtige Zeichen tippen konnte. Später, mit Einführung der Kugelkopf- und Typenradmaschinen, gab es die sog. „Korrekturtaste“, die mit einem klebrigen Streifen automatisch das falsch getippte Zeichen vom Papier abhob – Carbonband sei Dank.
Auch musste man fast immer einen „Durchschlag“, also eine Kopie, mitlaufen lassen. Das heißt: Schreibpapier in die Maschine einspannen, dahinter ein Blatt Durchschlagpapier (auch als Kohlepapier bezeichnet) und dahinter wiederum ein dünnes Blatt Papier. Mit dem Hintergrund, dass es einfacher war, direkt zwei Ausführungen des Geschriebenen zu haben: das eigentliche Dokument und eine Kopie zum Abheften. Dauernd zum Kopierer rennen war nämlich irgendwie kontraproduktiv, also hat man direkt ein Duplikat des Briefes zum Abheften erstellt. Und weil es billiger war, wurde die Kopie – der Durchschlag – auf einem ziemlich dünnen Papier erstellt.
Mein Schicksal als Sohn der Chefsekretärin
Ich habe meine Ausbildung zum Chemielaboranten in der gleichen Firma gemacht, in der meine Mum die Sekretärin vom Chef war. Eigentlich ganz praktisch, weil ich mit ihr zusammen auf die Arbeit fahren konnte (und sie später mit mir), ich in der Mittagspause mit ihr einen Kaffee in der kleinen Küche neben ihrem Büro trinken konnte, aber auch ein gewaltiges Handicap. Warum? Weil ich der Sohn der Sekretärin vom Chef war. Einige meiner Lehrherren dachten wohl damals „mit dem Jungen musst du vorsichtig umgehen, sonst petzt der bei seiner Mutter und die petzt dann beim Chef und dann bin ich dran!“ Totaler Bullshit, denn selbst wenn einer meiner Ausbilder mir wirklich mal die Leviten gelesen und ich das meiner Mutter erzählt hätte, wäre sie niemals auf die Idee gekommen, das dem Chef zu erzählen. Aber so war es leider, und so hat mich manch‘ einer während der Ausbildung mit Samthandschuhen angefasst, aus lauter Angst, es hätte Konsequenzen, wenn er mir gegenüber mal ehrlich ist, wenn ich mich blöd anstelle. So habe ich teilweise wichtiges Feedback nicht erhalten und so mancher hat über mich getuschelt. Schrecklich, diese Denkweise. Aber ich habe die Ausbildung trotzdem gut überstanden und bin ein guter Laborant geworden.
Der Terminkalender
Ohne ihn ging gar nichts. Outlook gab es noch nicht, und selbst wenn, meine Mum hatte ja eine Schreibmaschine und keinen Computer. Hätte ihr also nichts genützt. Also hat sie jedes Jahr einen Tischkalender von Chem. Werke Hüls gehabt, den ihr der freundliche Herr vom Verkaufsbüro Frankfurt immer in der Weihnachtszeit vorbeigebracht hat. Interessant, was sich darin alles findet. Ich hatte nach dem Tod meiner Mum die Terminkalender aus den Jahren 1969, 1975, 1993 und 1995 gerettet. Der Chef ist sehr häufig nach Italien und Frankreich gejettet und es gaben sich diverse Herrschaften, incl. des späteren Bundeswirtschaftsministers sowie Herrschaften diverser Industrieverbände und befreundeter Firmen, gerne mal die Klinke in die Hand. So ist das eben, wenn man Chef eines relativ großen, regionalen Chemieunternehmens ist. Und meine Mum war mittendrin. War alles ziemlich cool damals.
Im Terminkalender von 1969 gibt es am 11.01. einen Eintrag, dass ich um 14:50 geboren wurde.
Kuriositäten von damals
Der Chef, nennen wir ihn DrES, bekam Ende des Jahres immer einen ganzen Haufen Weihnachtsgeschenke von diversen Firmen, Kunden und Geschäftspartnern. Einige hat er behalten, andere wiederum gab er meiner Mutter. Da waren teilweise sehr hübsche Dinge dabei. So kann ich mich an einen riesigen Bildband namens „Zauberwelt der Mineralien“ erinnern, der als Kind mein Interesse an Mineralien geweckt hat. Da war ich ungefähr 10 Jahre alt. Auch die Lufthansa, die mit DrES einen sehr guten Kunden und Vielflieger hatte, ließ sich nicht lumpen. Die hatte immer sehr stilvolle Geschenke gemacht, z.B. künstlerisch gestaltete Weihnachtskugeln, Original First-Class-Gläsersets und andere hübsche Dinge, natürlich immer nebst hochwertig gestaltetem Booklet in einem tollen Geschenkkarton. Die Lufthansa-Gläser habe ich heute noch.
Ja, und da waren noch die Flüge mit der Concorde. Ja, DER Concorde! Denn DrES ist in seinem Chef-Leben zweimal mit diesem traumhaften Flugzeug geflogen und meine Mutter durfte ihm die Flüge buchen. In irgendeinem Terminkalender steht noch als Eintrag „DrES Concorde“, ich muss da mal genau nachschauen. Das war damals so – wer etwas auf sich hielt, machte das einfach mal. Außerdem war DrES damals mit der Tochter eines bekannten französischen Parfümkonzerns, den es auch heute noch gibt, verheiratet. Da düste man gerne mal nach Lyon und durch den Rest der Welt.
Das Ende einer Sekretärinnenlaufbahn
Am gleichen Tag, als meine Mutter im Unternehmen angefangen hatte, hat auch DrES neu dort angefangen – als frischgebackener Doktor der Chemie und Nachfolger des Senior. Am letzten Tag meiner Mutter im Jahr 1995 hatte auch er aufgehört. Interessanterweise sind sowohl meine Mum und DrES im gleichen Jahr geboren, nämlich 1935. Die Beiden haben sich ein ganzes Arbeitsleben lang begleitet, bis auf den Tag genau! Es war nie „Liebe“, aber immerhin Respekt. Meine Mum sagte immer, dass er sie nie gelobt hat, worunter sie litt. Dennoch hatte sie alle Freiheiten, die sie wollte und hat immer von ihm bekommen, was sie wollte. Eine komische Beziehung irgendwie. Selbst viele Jahre, nachdem sie schon lange in Rente war, hatte sie öfters den Traum, dass sie noch ihren Schreibtisch in ihrem alten Büro ausräumen müsse – so, als ob sie immer noch eine „letzte Rechnung“ mit ihrem alten Job zu begleichen hat.
Hi Martin, eine schöne Zeitreise!
Als ich neun war, ist meine Mutter aus ihrem Hausfrauendasein ausgestiegen und ab dann konnte ich sie bei der Arbeit besuchen. In einer Anmeldung eines Krankenhauses (mit teils ambulant agierenden Ärzten). Da konnte ich in den Patientenakten wühlen (uiuiui Datenschutz), ich fand aber nur die nach Geburtsdaten sortierten Akten genau wegen dem Datum spannend. Da standen auch Schreibmaschinen und ziemlich antiquarische Technik rum. Und meine Schwester hat später in dem Krankenhaus eine Laborausbildung gemacht 😉 Und meine Mutter ist unter anderem immer mit den Akten der erschienenen Patienten auf und ab zu den Ärzten gerannt, sie war auch immer schlank 😉 Hat leider nur 5 Jahre da gearbeitet, danach wurde alles doof, sie hatte einen üblen Anfahrtsweg, weil jeden Tag über die Grenze nach West- Berlin. Wegen ein bissel mehr Geld, heute fragt sie sich, ob es das wert war (so kam die Mutter immer spät, müde und kaputt nach Hause und musste früh halb 6 wieder los)
Was für eine kuriose Geschichte, dass deine Mutter und der Chef ihr ganzes Arbeitsleben miteinander verbracht haben.
Viele Grüße zu dir!
Liebe Miki, vielen Dank für Deinen Kommentar! Du bist doch aus Ost-Berlin ursprünglich, oder? Und da konnte Deine Mutter zum Arbeiten in den Westen? Wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, dass das ging. Oder war das in den 60ern, bevor die Mauer stand?
Ja, das sind echt schöne Erinnerungen, die wir da haben! Die kann uns keiner mehr nehmen.
Ich antworte Dir gerade vom Smartphone aus, wir machen diese Woche Urlaub im Allgäu, in Oberstdorf. Total schön hier, sehr entspannend. Eben waren wir schön essen und morgen fahren wir mal zum Bodensee, ist ungefähr eine Stunde entfernt.
Ich wünsche Dir eine schöne Zeit und bis bald 🙂
Nee, das war in den 80ern. In W Berlin stand eine Poliklinik der Deutschen Bahn, die S Bahn gehörte dem Osten, fuhr aber auch im Westen. So gab es da die Poliklinik für die Versorgung der S- Bahner, dort arbeiteten teils Westberliner, teils Ostberliner. Logisch war das nicht, aber war eben so. Dort durfte dann auch nur arbeiten (aus dem Ostteil), wo es keine Fluchtgefahr gab, also verheiratet und Kinder. Meine Mutter konnte auch die Scheidung nicht einreichen, dann wäre der Job sofort weg gewesen. (Hat sie dann später erledigt- gut so)
Habt noch eine schöne Zeit und kommt gesund wieder!
Hi Miki! Ja, das waren merkwürdige Zeiten damals. Das mit der U-Bahn hatte ich schon mal gehört. Aber dass sich die DDR-Führung gegen Fluchtgefahr abgesichert hat – krass.
Wir sind auch wieder gut zuhause angekommen, es war schön und entspannend. Jetzt geht der Alltag wieder los…
Hallo Martin,
was für ein wunderbarer Text. Ich erinnere mich auch gern an die Zeit, als ich meine Mutter an ihrer Arbeit besuchte. Sie war zwar nicht die rechte Hand vom Chef. Aber die leitende Korrektorin einer Verlags. Durch sie habe ich gelernt, pedantisch in Sachen Orthografie und Grammatik zu sein. So etwas prägt.
In deinem Text schwingt auch Melancholie mit. Natürlich, wenn die eigene Mutter nicht mehr lebt und man über solche Fotos stolpert. Insofern danke ich dir ganz herzlich für diesen außerordentlichen Artikel.
Hallo Henning,
vielen Dank für Deinen tollen Kommentar! Ja, da haben wir wohl beide – zum Glück – Mütter gehabt, die uns vernünftiges Schreiben vermittelt haben. Weiß zwar heute kaum noch einer zu schätzen, aber dem Kenner fällt es wohlwollend auf 🙂
Ja, wenn man so alte Fotos durchschaut, kommen die Erinnerungen wieder hoch und das Gehirn setzt Stück für Stück wieder die Vergangenheit zusammen. So ging es mir am diesem Abend und während ich am Schreiben war, kamen immer mehr Puzzlestücke zusammen. War sehr interessant.
Dass das interessant war, kann ich mir vorstellen. Ich gucke auch hier und da mal nach alten Fotos. Dabei fallen einem schon mal ein paar Begebenheiten ein. Ich glaube, dass das irgendwie auch wichtig ist.
Ich denke ja auch, dass vernünftiges Schreiben wichtig ist. I bims 1 Rechtschreibfehler vong Orthografie her. Das ist nicht so meins. Ich weiß es natürlich zu schätzen, wenn zumindest die Worte richtig geschrieben wurden und die Satzzeichen nicht allzu sehr wie mit dem Salzstreuer verteilt wirken. Das zeugt auch ein wenig von Respekt. Aber naja, da bin ich vermutlich zu konservativ.
„Aber naja, da bin ich vermutlich zu konservativ.“
Dann bin ich – entgegen meiner sonstigen Einstellungen – auch konservativ 😉
Na da bin ich ja froh, dass wir das ähnlich sehen. Und es ist ja nichts schlechtes, hier und da mal ein paar konservative Ansichten zu haben.