Die Tankstelle Eine mysteriöse Kurzgeschichte

Marc stand unter dem Dach der alten Tankstelle, die anscheinend schon lange nicht mehr in Betrieb war. Er war voller Wut, trank den letzten Schluck aus der Flasche und überlegte kurz, ob er sie nicht einfach auf die dreckigen, kaputten Betonplatten, zwischen denen das Unkraut wucherte, oder in die Büsche werfen sollte. Dann entschied er sich dagegen, schraubte sie zu und hielt sie in der Hand. 30 Grad im Schatten, mitten im Juli. Die Mittagssonne brannte auf den schwarzen Asphalt der Landstraße, der an der Oberfläche leicht flimmerte. Alle paar Minuten kam ein Auto vorbei – ansonsten nichts los hier. In einer Ecke der Tankstellenruine lag verrosteter Schrott, und von der Fassade des Kassenhäuschens waren schon einige Kacheln abgefallen. Es ging kein Lufthauch und die Schweißtropfen liefen ihm über das Gesicht.

Warum bloß sollte man an einem Freitag um kurz nach zwölf an diesem Ort sein? Ganz einfach: wenn man sich im Auto, nachdem man im Baumarkt war, heftig mit der Freundin gestritten und das Bedürfnis hatte, auf freier Strecke auszusteigen. „Du kannst alleine weiterfahren, den Scheiß höre ich mir nicht mehr an!!“ „Dann steig‘ doch aus!!“ Die Tür klatschte zu, die Reifen quietschten, und Marc stand im Nirgendwo in der Eifel – und wusste nicht mal mehr geanau, warum sie sich gestritten hatten. Jetzt musste er wohl per Anhalter weiterfahren, denn ein Bus fuhr offensichtlich nicht. Es war absolut tote Hose. Und es war nicht nur heiß, sondern auch verdammt still.

Er beschloss, an den Straßenrand zu gehen und den Daumen nach oben zu halten. Doch dann hörte er ein leises, undefinierbares Geräusch aus der Nähe des Kassenhäuschens. Er stutzte kurz. „Was ist das denn?“ Einige Sekunden später hörte er es schon wieder und drehte sich um. Er ging langsam in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Die angelehnte Tür des verfallenen Häuschens ließ sich nur mit Mühe aufstemmen, und was ihn dort erwartete, sah sehr unübersichtlich aus: ein verrotteter Tresen, auf dem Unrat lag, ein Stuhl mit krummen, verrosteten Beinen, altes Laub und eine ganze Menge Müll in der Ecke. Es roch nach altem Schmieröl, Pisse, Schimmel und Gummi. An manchen Stellen war der Putz von der bröseligen Wand abgeblättert.

„Warum hat man sowas nicht schon vor Jahren abgerissen?“, fragte er sich. Er sah auf den kaputten Fliesenboden. Ihm fiel auf, dass dort Spuren von Schuhsohlen im Staub zu sehen waren. Nicht nur ein paar, sondern ziemlich viele. Sie hatten eine helle Spur auf dem Boden hinterlassen. Und sie führten ihn zu einem Haufen Schutt, der aus Resten von Holzplanken, alten Farbeimern und anderem Abfall bestand. In einem kleinen, überraschenderweise sauberen Eckchen sah er dann, was das Geräusch verursachte.

Neben drei dünnen Kerzen, die ruhig abbrannten, stand eine Spieluhr aus Blech. So eine bunte, alte, die man manchmal auf Flohmärkten findet, mit einer Kurbel auf der Oberseite, mit der sie aufgezogen wird. Ein kleines Blechspielzeug. Er sah eine Zeitlang hin und war erstaunt: die Kurbel bewegte sich plötzlich ein Stück und machte einen Ton – „plingg!“ und verharrte danach wieder. Marc erschrak heftig. Die Kerze flackerte leicht. Ihm war unwohl und er dachte: „Ist das von irgendeinem Kult, den es hier auf dem Dorf gibt? Irgendwas Satanisches vielleicht?“

„Plinggg“

Neben der Spieluhr lag ein zerknitterter, vergilbter Kassenbon, auf dem mit dickem Filzstift geschrieben stand:

DEIN LETZTER TAG

Marc erschauderte, bückte sich, hob den Zettel auf und steckte ihn mit zittrigen, feuchten Fingern in seine Hosentasche. Seine Gedanken überschlugen sich: „Was soll der Scheiß?!“, dachte er. Verängstigt und eiligen Schrittes stolperte er aus der Tür, hinaus in die gleißende Mittagssonne, stellte sich an den Straßenrand und hielt den Daumen nach oben. Bloß schnell weg. Irgendwas stimmt hier nicht.

Einige Zeit später kam ein roter BMW vorbei, fuhr auf den Randstreifen und bremste einige Meter weiter, wobei er eine kleine Staubwolke aufwirbelte. Das Beifahrerfenster öffnete sich.

„Wo willst du hin?“

„Wohin fährst du?“

„Nach Mayen.“

„Alles klar, ich komme mit!“

Marc öffnete die Tür und stieg ein, das Auto war angenehm klimatisiert. Er schnallte sich an und sie fuhren los. Ein letztes Mal drehte er sich um und sah den staubigen Weg neben der Straße, verdörrte Büsche und Leitpfosten am Fahrbahnrand. Die alte Tankstelle sah er nicht mehr. Ihm wurde schwindelig.

„Hast du was zu trinken?“, fragte Marc den Fahrer. „Klar, schau mal im Handschuhfach.“ Er nahm die kleine Plastikflasche, trank sie gierig aus und merkte, dass er anscheinend völlig dehydriert war. „Vielen Dank.“ Dann kramte er den zerknitterten Kassenbon, den er an der Tankstelle neben der Spieluhr gefunden hatte, aus seiner Hosentasche und schaute ihn sich nochmals an. Er konnte kaum glauben, was er sah. Denn auf diesem Zettel stand jetzt:

DEIN LEBEN WAR VERKEHRT

Marc warf den Zettel panisch weg. „Was ist los?“, fragte der Fahrer und schaute zu ihm herüber, in seine angsterfüllten Augen. Dabei bemerkte er nicht, dass ein anderes Auto in diesem Moment ungebremst von rechts kam und ihnen die Vorfahrt nahm.

Einige Kilometer weiter, an einer alten, verlassenen Tankstelle, drehte sich eine kleine Spieluhr mit einem leisen „plingg!“ ein Stückchen weiter, während auf einer Kreuzung, mitten im heißen Juli, zwei zerknüllte Haufen Blech lagen und ein brennender Reifen langsam die Landstraße entlang rollte. Im Nirgendwo in der Eifel.

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Über Martin

Ich bin und war es immer, der Chefredakteur des alten und des neuen Loft 75, dem illustrierten Magazin aus dem 21. Jahrhundert. Geboren 1969 in einem kleinen Ort im Welterbe Oberes Mittelrheintal und somit gebürtiger Rheinland-Pfälzer. Ich habe mich bereits 1987 für Computer interessiert, bin oft kreativ und reduziere Dinge auf das Wesentliche, schreibe gerne und interessiere mich für Design, Einrichten, Internet, Kochen, Blogging und alles, was außergewöhnlich ist und außergewöhnlich gut aussieht. Privat wohne ich am Mittelrhein. Und ich freue mich, wenn Du dieses Magazin magst - lesen wir voneinander..?
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