Als Inas Papa gestorben ist, standen wir vor der Mammutaufgabe, das Elternhaus leer zu räumen. Es schmerzt, aber es ist trotz allem auch wirklich spannend, was sich da findet: Schallplatten, Super 8-Filme und natürlich jede Menge Fotos. Wir haben Fotos bis ins Jahr 1901 gefunden und es war beeindruckend, welche Mühe man sich damals aus fotografischer Sicht machte. Die Belichtungszeiten waren lang, die Filmplatten waren teuer und somit waren Fotos damals noch etwas Besonderes.
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Das unerwartete Foto
Bei der Durchsicht der alten Aufnahmen stießen wir auf ein ganz besonderes Bild: es zeigt das Porträt einer Frau, die große Ähnlichkeit mit Inas Oma Lene (in jungen Jahren) hatte und außerdem eine Brille trug, die für die damalige Zeit auffallend modern war. Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen dachte die Frau auf dem Porträt gerade über irgendetwas nach. Als wir das Bild umdrehten, trauten wir allerdings unseren Augen nicht – denn was dort mit Bleistift auf die Rückseite geschrieben wurde, ist mehr als spannend und hat uns dazu veranlasst, dem Geheimnis des Fotos auf den Grund zu gehen. Aber seht selbst.
Das Bild wurde demnach 1928 im Dessauer Bauhaus (nein, nicht der gleichnamige Baumarkt…) aufgenommen. Und Herta Blum war in der Tat Inas Großtante!
Was war das Bauhaus?
Das Bauhaus war damals und bis in die heutige Zeit eine der einflussreichsten Designschulen der Welt, an der Künstler, Architekten und Maler wie Wassily Kandinsky, Paul Klee und Ludwig Mies van der Rohe gelehrt hatten und viele ihrer Schüler wiederum weltberühmt wurden. Dort wurde beispielsweise der Freischwinger-Stuhl erfunden, die Wagenfeld-Lampe und letzten Endes sogar das Reihenhaus. Es gab verschiedene Werkstätten, so z.B. die Metallwerkstatt, die Textil- und die Keramikwerkstatt. In jeder dieser Werkstätten lehrte ein renommierter Meister und es wurden zum großen Teil vollkommen neue Wege bei der Gestaltung von Produkten gegangen. Dabei ging es darum, dass Kunst, Design und die industrielle Herstellung von Produkten zusammengeführt werden, sodass formschöne, günstige Gegenstände und sogar Häuser entstanden, die sich jeder leisten können soll. Später machten die Nazis das Bauhaus dicht und viele der Künstler wurden verfolgt, weil sie vorgeblich „entartete Kunst“ schufen. Inoffizieller Nachfolger des Bauhauses war in den 1960ern die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm, an der beispielsweise Dieter Rams studierte, der das klassische Design der Firma Braun erschuf und die 10 Regeln für gutes Design definierte.
Ihr seht, das Bauhaus war nicht irgendeine Designschule – es war die erste integrierte Designschule überhaupt, deren innovative Konzepte noch heute Maß aller Dinge und Stand der Technik sind.
Es ist leider ein großes Problem, dass es eine Bau- und Heimwerkermarktkette gibt, die genauso heißt. Denn man muss fast immer den Satz „nein, das Bauhaus, um das es hier geht, ist kein Baumarkt!!!“ hinterherschieben…
Was hatte es mit Herta und dem Bauhaus auf sich?
Jetzt wollten wir natürlich wissen, wie dieses Bild zustande gekommen war. Hatte Inas Großtante das Bauhaus besucht? Oder vielleicht sogar dort studiert? Was wir wussten: sie wurde 1896 in Lennep geboren und verstarb 1977 in den USA. Da Inas Familie – so traurig es auch klingt – nicht mehr existiert, wussten wir nicht viel über Herta. Nur, dass Inas Oma Lene (also Hertas Schwester) schon seit den späten 1920er Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr hatte. Somit musste eine andere Quelle her, die uns weiterhelfen konnte: das Archiv des Dessauer Bauhauses. Also haben wir es angeschrieben, das Bild beigefügt und waren gespannt auf die Antwort.
Zwei Tage später bekamen wir einen sehr netten Anruf aus dem Sekretariat, dass einer der Archivare uns weiterhelfen will und daher recherchiert. Es wurde um etwas Geduld gebeten und letzte Woche erhielten wir eine E-Mail vom Bauhaus, die all‘ unsere Fragen beantwortete. Und wir bekamen wirklich sehr große Augen, als wir lasen, was die Recherche ergeben hatte.
Die Mail
Ich zitiere ab hier den Inhalt der E-Mail, die wir aus Dessau erhalten haben.
Guten Tag, Herr S******,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die wir gerne wie folgt beantworten möchten.
Das Foto, das Sie uns zur Auswertung überlassen haben, ist unserer Meinung nach im Aulafoyer oder im Werkstattflügel des Hauptgebäudes entstanden, da es verschiedene weitere Fotografien gibt, die unter ähnlichen Lichtverhältnissen und Hintergrund aufgenommen wurden. Somit kann indirekt auf den Aufnahmeort geschlossen werden.
Frau Herta Blum-Heuwecker war vom 01.08.1927 (Beginn Sommersemester) bis zum 16.09.1929 im Staatlichen Bauhaus Dessau als Studentin eingeschrieben. Sie arbeitete nach dem Vorkurs in der Metallwerkstatt unter der Leitung von Marianne Brandt unter anderem mit Marcel Breuer und steuerte wesentliche Ideen zur knickfreien Verarbeitung von Stahlrohr bei. Dies ermöglichte letztendlich die Realisierung von neuartigen Stahlrohrmöbeln mit wesentlich besseren Stabilitätseigenschaften. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit entwickelte sie die Brillenfassung „HB 1256“, die heute in Kunststoff-Ausführung vom Hersteller Strellson vertrieben wird.
Im September 1929 emigrierte Herta Blum-Heuwecker in die USA, um bei der L.E.B. Manufacturing Company in New York als Ingenieurin zu arbeiten. Nach unseren Recherchen entwickelte sie das Design der bereits 1910 erfundenen Foldback-Klammer weiter, sodass diese praktikabler und günstiger zu produzieren war.
Für Ihre Anfrage haben wir folgende Quellen ausgewertet:
- Metallwerkstatt Dessau // Meisterklasse 1929 Brandt, Meyer – bauhausarchiv
- Stadtarchiv der Stadt Dessau-Roßlau, Abt. II
- Hamburg-Amerika-Linie, Passagier-Verzeichnis Überfahrt HH-New York 16.10.1929
- The L.E.B. Manufacturing Company, Archive and Chronology, NY 1934
- Modellkatalog 2019, Strellson AG, Kreuzlingen TG, Switzerland
Wir freuen uns, wenn wir Ihnen die Informationen geben konnten, nach denen Sie gesucht haben. Das Staatliche Bauhaus Dessau ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts, daher ist diese Recherche für Sie kostenfrei.
Mit freundlichen Grüßen aus Dessau-Roßlau,
i.A. Wesley Kaminsky
bauhausarchiv am staatlichen bauhaus dessau
Das hätten wir wirklich nicht erwartet und wir waren sehr überrascht – denn „unsere“ Großtante war eine Designerin, die wirklich am Bauhaus studiert hat. Wer hätte das gedacht!
Der Kreis schließt sich
Ina und ich sind seit jeher große Bewunderer des zeitlosen Bauhaus-Designs und haben auch ein paar hart ersparte Klassiker bei uns in der Wohnung stehen. Aber wir hätten nie gedacht, dass jemand aus unserer Verwandtschaft tatsächlich dort studiert hat! Was hätte ich Tante Herta alles gefragt, wenn sie noch leben würde.
Ich glaube, ich weiß, was du meinst. 🙂 https://photos.app.goo.gl/jDgYY8Q5Zh5rmVkE9
Ja, sowas beispielsweise. Aber auch die relativ aktuellen Reste menschlicher Kultur und Industrie. Hier ist ein interessanter Artikel zum niederländischen Pavillon mit Bild
Diese Dörfer gibt es (noch). Allerdings habe ich sie nie besucht. Mich deprimieren diese Ansichten sehr. Dabei bin ich, das will ich ausdrücklich sagen, kein Anhänger der FF-Initiativen oder der krass linksextremen Aktivisten.
Ich mag das Morbide, Verfallene oft sehr gerne. Es zeigt mir die Vergänglichkeit und das finde ich seltsam schön.
Im Jahr 2000 war ich auf der EXPO in Hannover. Damals war alles komplett Richtung „Zukunft“ aufgemacht, das Expo-Gelände war ein Schmuckstück und die Pavillons vieler Länder waren einfach aufsehenerregend. Jetzt, 21 Jahre später, ist das Gelände verfallen. Besonders der niederländische Pavillon, der sehr spektakulär war, ist noch als Ruine vorhanden, eigentlich ein Jammer. Aber andererseits wachsen dort jetzt Pflanzen, haben sich Biotope gebildet. Es macht einem deutlich, wie endlich das ganze Dasein ist. Und wenn man noch weiß, wie es vorher aussah, ist es umso spannender, es Jahre später zu sehen.
Eine ganz tolle Geschichte, Martin. Ich habe auf ganz andere, indirekte Weise Bezüge zu Bauhaus. Die wunderbaren Werke, die uns diese Designschule hinterlassen hat, leben weiter. Ich freue mich immer, wenn ich sogar hier im Dorf ganz neugebaute Häuser sehe, die eindeutig Einflüsse zeigen. Bauhaus ist eine ganz großartige Idee, die weiterhin einen großen Einfluss besitzt.
Ich bin auf dem Sonnenhof aufgewachsen. Der Stil des Hauses erinnert an Bauhaus, wie du vielleicht anhand dieser Fotos nachvollziehen kannst. Wegen dieser Fotos stand ich vor ein paar Jahren mit dem Landesamt für Denkmalpflege in Kontakt. Man hatte die Fotos in meinem Beitrag entdeckt und wollte sie gerne für einen „Führer zum Neuen Bauen“ verwenden. Das ließ sich aber deshalb nicht darstellen, weil die Qualität der Bilder dafür nicht ausreichte. Sie waren von alten Fotos abfotografiert. Du siehst anhand des Links, was ich meine. Die Originalbilder konnten wir nicht auftreiben. Schade eigentlich. Aber es ist schon interessant, wie die Geschichte und die persönlichen Verbindungen zu Bauhaus lebendig bleiben. Danke fürs Teilen.
Hallo Horst, vielen Dank für Deinen schönen Kommentar.
Ich habe mir Deine beiden Artikel durchgelesen und ja, der Sonnenhof war anscheinend etwas ganz Besonderes und sah auch ziemlich „bauhaus-artig“ aus. Jammerschade, dass der Braunkohle-Tagebau auch hier vieles zunichte gemacht hat. Bei Euch in der Gegend gibt es ja das ein oder andere Geisterdorf. Das würde mich echt mal interessieren, in so einem Ort, der quasi nur noch als „´Zombie“ existiert, ein paar Fotos zu machen. Da komme ich ggf. auch mal auf Dich zu, denn Du hast da ganz sicher etwas mehr Ahnung und Insiderwissen als ich.